Richtungswechsel ausgeblieben
Türkischer Gewerkschaftsbund bestätigt Führung.
Kämpferischer Flügel fordert Abkehr vom Kuschelkurs mit Ankara
Von Nick Brauns
Ein Richtungswechsel an der Spitze des größten türkischen
Gewerkschaftsbundes mit seinen rund 2,13 Millionen Mitgliedern blieb auf der 21. Generalversammlung von Türk-Is in Ankara aus. Doch die Oppositionsplattform »Kraft durch Einheit« konnte auf dem am Sonntag 11. Dezember zu Ende gegangenen viertägigen Kongreß den Unmut vieler Gewerkschaftsmitglieder am Kuschelkurs der Türk-Is-Führung gegenüber der neoliberalen AKP-Regierungspolitik artikulieren. Der bisherige Generalsekretär Mustafa Kumlu wurde zwar mit 223 Stimmen im Amt bestätigt. Doch sein Herausforderer, der Vorsitzende der Ölarbeitergewerkschaft Petrol-Is, Mustafa Öztaskin, kam immerhin auf 127 Stimmen. Er wurde unterstützt durch eine Plattform von zehn der
insgesamt 30 in Türk-Is organisierten Einzelgewerkschaften, darunter neben Petrol-Is, der Journalistenverband TGS, die Organisation der Luftfahrtbeschäftigten Hava-Is, die Lebensmittelarbeitergewerkschaft Tekgida-Is und die Transportarbeitergewerkschaft Tümtis.
Kumlu wurde von Delegierten mit Rufen wie »Nein zu einem lauwarmen Türk-Is« empfangen. Dem Generalsekretär, der als Vertrauter von Staatspräsident Abdullah Gül gilt und der regierenden islamisch-konservativen AKP nahesteht, wird unter anderem vorgeworfen, den monatelangen Streik der Tekel-Tabakarbeiter im Winter 2010 systematisch behindert und ausgebremst zu haben.
»Türk-Is muß eine neue Position an der Spitze der Volksopposition
einnehmen«, verlangte sein Herausforderer Öztaskin. Er kritisierte, daß der Gewerkschaftsbund sogenannte Flexibilisierungsmaßnahmen der Regierung ebenso kampflos hingenommen hatte, wie Angriffe auf Organisationsrechte. Unterstützung erhielt er durch ein Grußwort von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. »Die Arbeiterklasse ist in einem Zustand der Lethargie«, mahnte der Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP.
»Wenn ihr eure Macht nicht auf die Straße bringt, werden euch die
Zeitungen nicht einmal erwähnen. Ihr könnt keine Rechte gewinnen, ohne den Preis dafür zu zahlen.«
Die Türk-Is-Delegierten beschlossen, eine Kampagne der Journalistengewerkschaft für Pressefreiheit und die
Freilassung der rund 70 in der Türkei inhaftierten Journalisten und
Schriftsteller zu unterstützten.
Der 1952 mit Hilfe der Arbeiterfeindlichen Parteiführer der
Demokratischen Partei und des CIA gegründete Gewerkschaftsbund Türk-Is war traditionell eine gelbe Gewerkschaft und durfte als einziger Gewerkschaftsbund auch unter der Militärdiktatur nach dem Putsch vom 12. September 1980 weiterexistieren. Mit der Regierungsübernahme der AKP Ende 2002 und der von ihr verstärkt vorangetriebenen neoliberalen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik wurden einzelne Türk-Is-Gewerkschaften allerdings stärker in eine Oppositionsrolle getrieben. Während die von Kumlu repräsentierte Mehrheit sich um ein gute Verhältnis zur AKP-Regierung bemüht, haben vor allem die jetzt in
der Oppositionsplattform vereinigten Teilgewerkschaften mit Istanbuler Verwaltungsstellen einen konfliktorientierten Kurs eingeschlagen.
Wichtige Kämpfe wie gegen die Privatisierung und Massenentlassung beim ehemals staatlichen Tabakmonopol Tekel oder für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung beim Transportdienstleister UPS wurden in den letzten Jahren durch Türk-Is-Mitgliedsgewerkschaften geführt.
Unterdessen hat die linksgerichtete Gewerkschaftsföderation des
öffentlichen Dienstes, KESK, einen türkeiweiten Ausstand für den 21.
Dezember angekündigt. Gefordert wird neben der gesetzlichen Anerkennung des Streikrechts, besseren Arbeitsbedingungen und höheren Mindestlöhnen auch ein Ende der Masseninhaftierungen von Oppositionellen und die Freilassung politischer Gefangener. So hatten Ende November im westtürkischen Izmir 25 Mitglieder der Föderation KESK und ihrer Bildungsgewerkschaft Egitim Sen aufgrund des »Antiterrorgesetzes«, Haftstrafen von jeweils sechs Jahren und fünf Monaten erhalten. Den Verurteilten, darunter dem KESK-Vorsitzenden Lami Özgen und der Egitim-Sen-Frauensekretärin Sakine Esen Yilmaz, wird vorgeworfen, für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, gearbeitet zu haben.
Die Türkei verzeichnet unter der islamisch-konservativen AKP-Regierung ein stetiges Wirtschaftswachstum. Doch dieser Boom bringt kaum Arbeitsplätze. Und abgesehen von Mexiko klafft die Schere zwischen Arm und Reich in keinem Mitgliedsland der OECD dermaßen weit auseinander wie in der Türkei. Der reale Organisationsgrand der auf je drei Dachverbände der Industriegewerkschaften und des öffentlichen Dienstes aufgespaltenen Gewerkschaftsbewegung der Türkei wird auf rund fünf Prozent der
Erwerbstätigen geschätzt. Bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von rund zwölf Prozent, die in der Realität wohl wesentlich höher ist, sind die Gewerkschaften mit einer massiven „industriellen Reservearmee“ konfrontiert, die bereit ist, für Billiglöhne zu schuften. Über die
Hälfte der Beschäftigten in der Türkei arbeiten zudem in informellen Arbeitsbeziehungen und fallen somit nicht unter Tarifverträge. Das durch die auch von der Türkei unterzeichnete Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation garantierte Recht auf gewerkschaftliche
Organisierung und kollektive Tarifverhandlungen wird Millionen von Arbeitern durch Gesetze aus der Zeit des Militärputsches vorenthalten.
Um als tariffähig anerkannt zu werden, muß eine Gewerkschaft einen Organisationsgrad von zehn Prozent in einer Branche sowie von fünfzig Prozent innerhalb eines Betriebes vorweisen. Gewerkschaftsmitgliedschaft muß notariell beglaubigt werden. Beschäftigte im Öffentlichen Dienst haben zwar seit letzem Jahr das Recht auf Tarifverhandlungen, doch Arbeitskampfmaßnahmen sind ihnen untersagt. Tausende Arbeiter wurden unter der Regierung Erdogan wegen gewerkschaftlicher Betätigung entlassen oder sogar inhaftiert.
Kämpferischer Flügel fordert Abkehr vom Kuschelkurs mit Ankara
Von Nick Brauns
Ein Richtungswechsel an der Spitze des größten türkischen
Gewerkschaftsbundes mit seinen rund 2,13 Millionen Mitgliedern blieb auf der 21. Generalversammlung von Türk-Is in Ankara aus. Doch die Oppositionsplattform »Kraft durch Einheit« konnte auf dem am Sonntag 11. Dezember zu Ende gegangenen viertägigen Kongreß den Unmut vieler Gewerkschaftsmitglieder am Kuschelkurs der Türk-Is-Führung gegenüber der neoliberalen AKP-Regierungspolitik artikulieren. Der bisherige Generalsekretär Mustafa Kumlu wurde zwar mit 223 Stimmen im Amt bestätigt. Doch sein Herausforderer, der Vorsitzende der Ölarbeitergewerkschaft Petrol-Is, Mustafa Öztaskin, kam immerhin auf 127 Stimmen. Er wurde unterstützt durch eine Plattform von zehn der
insgesamt 30 in Türk-Is organisierten Einzelgewerkschaften, darunter neben Petrol-Is, der Journalistenverband TGS, die Organisation der Luftfahrtbeschäftigten Hava-Is, die Lebensmittelarbeitergewerkschaft Tekgida-Is und die Transportarbeitergewerkschaft Tümtis.
Kumlu wurde von Delegierten mit Rufen wie »Nein zu einem lauwarmen Türk-Is« empfangen. Dem Generalsekretär, der als Vertrauter von Staatspräsident Abdullah Gül gilt und der regierenden islamisch-konservativen AKP nahesteht, wird unter anderem vorgeworfen, den monatelangen Streik der Tekel-Tabakarbeiter im Winter 2010 systematisch behindert und ausgebremst zu haben.
»Türk-Is muß eine neue Position an der Spitze der Volksopposition
einnehmen«, verlangte sein Herausforderer Öztaskin. Er kritisierte, daß der Gewerkschaftsbund sogenannte Flexibilisierungsmaßnahmen der Regierung ebenso kampflos hingenommen hatte, wie Angriffe auf Organisationsrechte. Unterstützung erhielt er durch ein Grußwort von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. »Die Arbeiterklasse ist in einem Zustand der Lethargie«, mahnte der Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP.
»Wenn ihr eure Macht nicht auf die Straße bringt, werden euch die
Zeitungen nicht einmal erwähnen. Ihr könnt keine Rechte gewinnen, ohne den Preis dafür zu zahlen.«
Die Türk-Is-Delegierten beschlossen, eine Kampagne der Journalistengewerkschaft für Pressefreiheit und die
Freilassung der rund 70 in der Türkei inhaftierten Journalisten und
Schriftsteller zu unterstützten.
Der 1952 mit Hilfe der Arbeiterfeindlichen Parteiführer der
Demokratischen Partei und des CIA gegründete Gewerkschaftsbund Türk-Is war traditionell eine gelbe Gewerkschaft und durfte als einziger Gewerkschaftsbund auch unter der Militärdiktatur nach dem Putsch vom 12. September 1980 weiterexistieren. Mit der Regierungsübernahme der AKP Ende 2002 und der von ihr verstärkt vorangetriebenen neoliberalen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik wurden einzelne Türk-Is-Gewerkschaften allerdings stärker in eine Oppositionsrolle getrieben. Während die von Kumlu repräsentierte Mehrheit sich um ein gute Verhältnis zur AKP-Regierung bemüht, haben vor allem die jetzt in
der Oppositionsplattform vereinigten Teilgewerkschaften mit Istanbuler Verwaltungsstellen einen konfliktorientierten Kurs eingeschlagen.
Wichtige Kämpfe wie gegen die Privatisierung und Massenentlassung beim ehemals staatlichen Tabakmonopol Tekel oder für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung beim Transportdienstleister UPS wurden in den letzten Jahren durch Türk-Is-Mitgliedsgewerkschaften geführt.
Unterdessen hat die linksgerichtete Gewerkschaftsföderation des
öffentlichen Dienstes, KESK, einen türkeiweiten Ausstand für den 21.
Dezember angekündigt. Gefordert wird neben der gesetzlichen Anerkennung des Streikrechts, besseren Arbeitsbedingungen und höheren Mindestlöhnen auch ein Ende der Masseninhaftierungen von Oppositionellen und die Freilassung politischer Gefangener. So hatten Ende November im westtürkischen Izmir 25 Mitglieder der Föderation KESK und ihrer Bildungsgewerkschaft Egitim Sen aufgrund des »Antiterrorgesetzes«, Haftstrafen von jeweils sechs Jahren und fünf Monaten erhalten. Den Verurteilten, darunter dem KESK-Vorsitzenden Lami Özgen und der Egitim-Sen-Frauensekretärin Sakine Esen Yilmaz, wird vorgeworfen, für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, gearbeitet zu haben.
Die Türkei verzeichnet unter der islamisch-konservativen AKP-Regierung ein stetiges Wirtschaftswachstum. Doch dieser Boom bringt kaum Arbeitsplätze. Und abgesehen von Mexiko klafft die Schere zwischen Arm und Reich in keinem Mitgliedsland der OECD dermaßen weit auseinander wie in der Türkei. Der reale Organisationsgrand der auf je drei Dachverbände der Industriegewerkschaften und des öffentlichen Dienstes aufgespaltenen Gewerkschaftsbewegung der Türkei wird auf rund fünf Prozent der
Erwerbstätigen geschätzt. Bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von rund zwölf Prozent, die in der Realität wohl wesentlich höher ist, sind die Gewerkschaften mit einer massiven „industriellen Reservearmee“ konfrontiert, die bereit ist, für Billiglöhne zu schuften. Über die
Hälfte der Beschäftigten in der Türkei arbeiten zudem in informellen Arbeitsbeziehungen und fallen somit nicht unter Tarifverträge. Das durch die auch von der Türkei unterzeichnete Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation garantierte Recht auf gewerkschaftliche
Organisierung und kollektive Tarifverhandlungen wird Millionen von Arbeitern durch Gesetze aus der Zeit des Militärputsches vorenthalten.
Um als tariffähig anerkannt zu werden, muß eine Gewerkschaft einen Organisationsgrad von zehn Prozent in einer Branche sowie von fünfzig Prozent innerhalb eines Betriebes vorweisen. Gewerkschaftsmitgliedschaft muß notariell beglaubigt werden. Beschäftigte im Öffentlichen Dienst haben zwar seit letzem Jahr das Recht auf Tarifverhandlungen, doch Arbeitskampfmaßnahmen sind ihnen untersagt. Tausende Arbeiter wurden unter der Regierung Erdogan wegen gewerkschaftlicher Betätigung entlassen oder sogar inhaftiert.
B.I.Bronsteyn - 18. Dez, 19:22