Ein Beitrag zur Diskussion um die „Neue Antikapitalistische Organisation“
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(Folgender Artikel erschien erstmals am 6. März 2012 im Blog bronsteyn.wordpres.com. Hier werden die grundlegenden Aspekte der
praktischen Orientierung und Linie der "Klassenorientierten Arbeiterbewegung" beschrieben. Der Text wurde in Grammatik und Rechtschreibung sowie einzelnen Formulierungen geringfügig korrigiert)
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Viele kennen diesen Satz und zitieren ihn gerne, vor allem wenn sie Programm-Diskussionen kritisieren wollen. Doch es ist wichtig, den Zusammenhang und Kontext dieses Satzes auch zu kennen. Er stammt aus einem Brief von Karls Marx an Wilhelm Bracke im Mai 1975. Marx und Engels hatten scharf gegen das Gothaer Programm Stellung genommen, auf dessen Grundlage sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (sogenannte Eisenacher) zusammengeschlossen hatten:
Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Konnte man also nicht – und die Zeitumstände ließen das nicht zu – über das Eisenacher Programm hinausgehn, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktionen gegen den gemeinsamen Feind abschließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt diese bis zur Zeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung mißt.
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1875/05/briefbracke.htm
Marx nimmt also nicht grundsätzlich gegen ein Programm wie das genannte Eisenacher Stellung, sondern gegen „ein Dutzend Programme“, bzw den Streit darum.
Bedeutsam finde ich, dass Marx
„eine längere gemeinsame Tätigkeit“ zur Voraussetzung eines Programms macht, das über ein vorhandenes hinausgeht.
Wie verhält es sich in diesem Zusammenhang mit der Initiative der SIB „Neue Antikapitalistische Organisation – na endlich“?
Die Chefs der Lassalleaner kamen, weil die Verhältnisse sie dazu zwangen. Hätte man ihnen von vornherein erklärt, man lasse sich auf keinen Prinzipienschacher ein, so hätten sie sich mit einem Aktionsprogramm oder Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Aktion begnügen müssen.
Kommen hier kleine isolierte linke Gruppen zusammen, weil sie die Verhältnisse dazu zwingen? Wahrscheinlich schon, ehrlich gesagt. Das ist ja auch durchaus nicht verwerflich.
Doch bis jetzt verläuft die Diskussion hauptsächlich entlang dessen, was man (durchaus positiv) als Kampf um Prinzipien verstehen könnte. Grundsätzlich gibt es da die Extreme Prinzipienreiterei und Prinzipienschacherei. Was mag schlimmer sein? Wie wärs erst einmal mit einem Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Aktion?
Hier ist einer: Das
Konzept der Klassenorientierten Arbeiterbewegung. Es ist nicht von mir entwickelt worden, sondern von der ältesten und wahrscheinlich größten trotzkistischen Organisation der Welt, der japanischen Revolutionär-Kommunistischen Liga (JRCL), auch „Chukakuha“ genannt. Ich habe die Grundlinien dieses Konzeptes in Theorie und Praxis studiert und befunden, das es in jeder Hinsicht den Vorstellungen von Marx, Engels und Lenin entspricht, aber auf eine gewisse methodische Weise neu und klar formuliert.
Hiermit stelle ich es in Deutschland vor.
Organisation der Arbeiter und Organisation der Revolutionäre
Bei allen künftigen Prozessen der Annäherung (oder auch nicht) ist die Tatsache ins Bewusstsein zu bringen, dass nicht nur die Ebene der
Organisation der Revolutionäre (Lenin) in einem desolaten Zustand ist, sondern auch die
Ebene der Organisation der Arbeiter ("Gewerkschaftliche" Ebene, keineswegs bezogen nur auf existierende "Einheitsgewerkschaften")). Diese Ebene braucht, wie immer irgendwelche Fusionsprozesse auch verlaufen mögen, eine strategische Antwort durch eine wahrhaftige Organisation der Revolutionäre, und wenn es eine solche noch nicht gibt, dann durch diejenigen Kräfte, die eine solche schaffen wollen.
Klassenorientierte Arbeiterbewegung in 13 Punkten
Das
Konzept der Klassenorientierten Arbeiterbewegung, das eine strategische Leitlinie sowohl für die Organisation der Arbeiter als auch die Organisation der Revolutionäre darstellt, basiert auf folgenden Grundlagen:
1. Das
Proletariat (die Klasse der Besitzer bloßer Arbeitskraft) stellt im 21. Jahrhundert die
Mehrheit der Bevölkerung, nicht nur in einzelnen Ländern wie Deutschland oder Japan, sondern weltweit. Diese Klasse wird in ihrer Komplexität und ihrer Grösse meist nicht gesehen und sieht sich auch selbst nicht so. Es ist ein
schlafender Riese, der aufgeweckt werden muss.
2. Die
durchgängige Kontrolle kapitalistischer Apparate über die Organisationen dieser Klasse ist der wichtigste Grund, dass diese Klasse nicht nur nicht ihre historische Mission erfüllen kann, sondern auch nicht selbst die Lösung ihrer dringensten sozialen Probleme angehen kann.
3. Notwendig ist die
Schaffung einer klassenorientierten Arbeiterbewegung als Strömung innerhalb der Klasse, und zwar weltweit. Die Aufgabe einer solchen Strömung ist es, die Interessen des Proletariats in seiner Gesamtheit zum Ausdruck zu bringen und die Hegemonie kapitalistischer Apparate über die Klasse zu brechen. Es handelt sich im wesentlichen auch um eine Hegemonie über das Bewusstsein (subjektiver Faktor).
4. Diese klassenorientierte Arbeiterbewegung geht grundsätzlich von der
Unvereinbarkeit der sozialen Interessen des Proletariats und denen der Kapitalbesitzer aus und schließt die Möglichkeit der Aussöhnung dieser Gegensätze aus.
5. Die klassenorientierte Arbeiterbewegung handelt in allen ihren Aktivitäten immer
auf die Gesamtinteressen der eigenen Klasse orientiert und reduziert sich nicht auf sektorielle Perspektiven (z.B. die Interessen nur der Lokführer oder nur der unbefristet Festangestellten).
6. Sektorielle Begrenzungen und Beschränkungen, Trennungslinien nationaler, kultureller, soziokultureller oder geschlechtlicher Art müssen beständig überwunden werden zugunsten einem zusammenfassenden Gesamtinteresse der Klasse.
7.
Wiederbelebung der Gewerkschaften ist ein zentrales Element dieser Ausrichtung, und zwar in einem sehr umfassenden Sinn. Gewerkschaften (daneben auch proletarische Genossenschaften) sind die historischen und natürlichen Organisationsformen der Arbeiterklasse. Die Bürokratisierung der konkreten Verbände (z.B. DGB) und ihre Verwandlung in versicherungsartige Dienstleistungsunternehmen (letztlich im Dienst des Kapitals) ist den Interessen der Klasse entgegengesetzt. Die Wiederbelebung der Gewerkschaften in ihrer eigentlichen Funktion ist die wichtigste Aufgabe unserer Zeit.
8. Wiederbelebung der Gewerkschaften betrifft nicht nur die Demokratisierung der existierenden Verbände und ihre Transformation in Organe des Klassenkampfes, sondern auch diejenigen Teile des Proletariats, die nicht organisiert sind. Hier ist es notwendig,
jede Art der Organisierung zu
unterstützen, die
die proletarischen Interessen zum Ausdruck bringt. Auch Stadtteilinitiativen und Komitees können insofern Bestandtteil der Wiederbelebung der Gewerkschaften sein.
Hinweis: in Japan gibt es neben den existierenden Branchengewerkschaften und ihren Dachverbänden auch sogenannte „amalgamisierte Gewerkschaften“ auf regionaler Wohnbezirks- und Stadtteilebene, die branchenübergreifend unorganisierte Arbeiter erfassen.
9. Die Klassenorientierte Arbeiterbewegung muss zunächst notwendigerweise als (formlose) Bewegung und Strömung beginnen, sich verbreitern und letztlich zum Ausgangspunkt von Klasseneinheit (gegen die kapitalistische Klasse) werden. Sie wird zu einer Strömung vereinen: Aktivistengruppen innerhalb der bestehenden Verbände, selbstermächtigte (autonome) Betriebsgruppen, Arbeitslosen-Gruppen, Stadtteil- und Mieterkomitees, gesellschaftliche Bewegungen mit proletarischer Ausrichtung.
10. Solidarität muss ein wichtiges Element der Klassenorientierten Arbeiterbewegung sein. Der japanische Begriff „
Danketsu“ bringt dies noch besser mit seinem spezifischen Inhalt von „unbedingtem Zusammenhalt“ zum Ausdruck. Es muss eine Gewohnheit werden, isolierte sektorielle Kämpfe zu unterstützen und die praktische Erfahrung von „Danketsu“ zu schaffen. Diese Ebene ist fast noch wichtiger, aber mindestens genau so wichtig wie die Ebene der Losungen und Forderungen. Eine Arbeiterklasse, die sich gewohnheitsmässig mit allen ihren kämpfenden Bestandtteilen solidarisiert, ist auch in der Lage, die Führung der gesamten Gesellschaft zu übernehmen.
11. Die Erfahrung von konkretem „Danketsu“ schafft
elementares Klassenbewusstsein und die Voraussetzung für komplexes (revolutionäres). Teilelemente dessen sind Faktoren wie gegenseitige Hilfe (auch im Alltag), Einfühlungsvermögen, Kommunikationskompetenz, eine konstruktive und solidarische Diskussions- und auch Streitkultur (innerhalb der Klasse, versteht sich, nicht gegenüber dem Klassengegner). „Danketsu“ bedeutet auch, dass „niemand im Stich gelassen“ wird und spricht auch die Emotionen der Klasse an („Einer für alle, alle für einen“).
Hier ist die
Zusammenarbeit in der klassenkämpferischen Praxis der Kernpunkt.
12. Es ist auch Aufgabe der revolutionären Kerne (der Vorläufer einer Organisation der Revolutionäre), ein solches elementares Klassenbewusstsein bei seiner Entstehung zu unterstützen und zu fördern.
Die Reduzierung der eigenen Aktivitäten auf die Propagierung denkbarer Übergangsforderungen bewirkt allein rein gar nichts.
13.
Eine Organisation der Revolutionäre kann sich sinnvollerweise nur im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Klassenorientierten Arbeiterbewegung (Ebene der Organisation der Arbeiterklasse)
sinnvoll formieren. Nur in einem solchen praktischen Zusammenhang kann sie sich aus vorhandenen Organisationsansätzen in einem geduldigen Prozess der Diskussion, des Austausches, der Kritik, der geduldigen praktischen Zusammenarbeit herausbilden und letztlich auch in konkreten Fusionen (Zusammenschlüssen) münden.
Konkret
Sind wir uns wohl darüber einig, dass eine breite diffus angelegte linksradikale Mischmaschorganisation “links von der Linken” kein Fortschritt gegenüber der bestehenden zersplitterten Situation darstellen würde? Noch viel weniger, wenn sie gar auch noch auf Teilnahme an bürgerlichen Wahlen fixiert wäre. Zentrale Linie meines Vorschlages ist die Orientierung auf eine gemeinsame Praxis, aus der im Erfolgsfalle auch eine Annäherung auf theoretischen Gebieten erfolgen kann (das Sein bestimmt das Bewusstsein):
- zur Wiederbelebung der Gewerkschaften (und einem ganz allgemeinen und umfassenden Sinn, nicht auf DGB-Gewerkschaften beschränkt)
- die Schaffung einer klassenorientierten Arbeiterbewegung (die verbandsübergreifend sein muss und auch die Sektoren einschliesst, die etwa von den DGB-Gewerkschaften gar nicht erfasst sind)
Ein gewisses Vorbild könnte die klassenorientierte Arbeiterbewegung in Japan mit seinem Flaggschiff Doro-Chiba sein. Wohlgemerkt: es geht um eine (im Prinzip formlose) Bewegung, nicht etwa um eine Strategie orientiert auf unabhängige Verbände. In jeder Hinsicht dürfen Revolutionäre sich hier nicht die Hände binden oder selbst schwächen.
Es gibt zwar in Deutschland kein DC und auch andere Besonderheiten (wie die amalgamisierten Gewerkschaften) gibt es bei uns nicht, aber es gibt sehr wohl (hauptsächlich aus alten linken Aktivisten bestehendes) Netzwerke klassenkämpferischer Gewerkschafter am Rande von DGB oder auch GDL. Es gibt autonome und „autonome“ Zusammenhänge vieler Art.
Berlin hat in einigen Stadtteilen eine ungewöhnliche Dichte von politischen Aktivisten.
Hier können die kleinen Propagandagruppen, die grundsätzlich eine Organisation der Revolutionäre schaffen wollen, in der Wiederbelebung der Organisation der Arbeiter praktisch zusammenarbeiten. Eine Annäherung gerade in der im Prinzip essentiellen Frage des Zieles einer Räterepublik kann nur auf der Basis gemeinsamer praktischer Arbeit wirklich gedeihen, und nur dann kann sie auch wirklich konkret diskutiert werden.
Im Grundsatz ist das Konzept der Klassenorientierten Arbeiterbewegung nicht wirklich neu.
Eine gute alte Losung ist die der Schaffung einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsströmung, was nichts anderes bedeutet. Aber es ist mehr als eine Losung, es ist eine strategische Leitlinie für die Praxis. Damit es in den Prozessen um die „NAO“ auch nicht eine blosse Losung bleibt, sind Absprachen und Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Gruppen hinsichtlich folgender Strukturen sinnvoll:
- klassenkämpferische Basisstrukturen innerhalb der existierenden Apparategewerkschaften (damit schliesse ich GDL usw. ein); Beispiel FBGS
- Betriebsgruppen (gemeint sind offene und unabhängige, und nicht Organisationszellen irgendeiner Partei); Beispiel: Aktionsausschuss S-Bahn
- Stadtteilkomitees (als Hebel, um die arbeitslosen und prekären Teile des Proletariats zu organisieren); existieren zahlreich in Berlin (2 und 3 sehe ich als auch sinnvolle Konkretisierung des Konzeptes der “amalgamisierten Gewerkschaften” an).
Eine solche gemeinsame Praxis ist in Berlin durchaus vorstellbar und auch praktizierbar.
Zu allen genannten Strukturen existieren in Berlin auch konkrete Ansätze.
Ohne eine solche parallele gemeinsame Praxis muss jeder Annäherungsprozess auf einer „positionellen Ebene“ auch im luftleeren Raum hängenbleiben muss. Dies allein schon aufgrund der Tatsache, dass kleine politische Gruppen keineswegs nur an ihrem eigenen Anspruch gemessen werden dürfen. Man beurteilt ja auch ein Individuum nicht allein danach, wonach es sich dünkt, oder?
Auch kleine linke Gruppen mit riesigem politischen Anspruch sind letztlich Gruppen konkreter Personen mit konkretem Eigen(Gruppen)Interesse. Die Gruppendynamik überlistet gern das eitle Avantgarde-Bewusstsein vieler Kleingruppen, die eher als Sekten zu betrachten sind (insofern sie sich nicht wirklich auf die Klasse des Proletariats orientieren).
Ohne eine wirkliche Annäherung in Theorie UND Praxis kann eine Organisationsproklamation bestenfalls nur in einem „Prinzipienschacher“ enden. Das Schicksal einer NAO wäre dann noch tragischer als das der französischen NPA.
Die Verwässerung der eigenen Programmatik bis zur Unkenntlichkeit hat noch nie eine revolutionäre Bewegung vorangebracht.
Eine erneute Proklamation etwa einer diffusen „Vereinigten Sozialistischen Partei“ mit erneutem Abbau von Mitgliedern und Positionen seitens aller beteiligten Gründer bringt weder die Sache der Organisation der Arbeiter noch die der Organisation der Revolutionäre weiter.
Von daher schlage ich die Orientierung der Klassenorientierten Arbeiterbewegung als Leitlinie der Prozesse um eine „NAO“ vor und stelle sie zur Diskussion.
B.I.Bronsteyn - 23. Mai, 13:16